Bei Flugverspätungen und stornierten Flügen haben sich viele Verbraucher längst daran gewöhnt, sich nicht selbst um ihre Rechte zu kümmern, sondern spezialisierte Dienstleister damit zu beauftragen. Für einen Anteil am zu erwartenden Betrag kümmern sich diese um die Eintreibung berechtigter Forderungen – und gehen dabei nicht nur mit den Kosten des Verfahrens ins Risiko, sondern je nach Anbieter auch mit der Grundforderung. Marktführer „Flightright“ ist seit 2010 aktiv und spricht von über 500 Millionen an durchgesetzten Entschädigungen. Für die Fluggäste spart der Service vor allem Zeit, denn während manche Fluggesellschaften berechtigte Forderungen auch ohne Dienstleister zeitnah begleichen, ziehen andere das Verfahren in die Länge und versuchen so Kunden abzuwimmeln.
Entschädigungen für Fluggäste
Statt gar nichts zu bekommen und viele Stunden Zeit zu verlieren, zahlt man dann lieber an den Dienstleister rund ein Drittel der zu erwartenden Entschädigung. Auch „EUflight“ ist nach eigenen Angaben seit zehn Jahren in diesem Markt aktiv und spricht von mehr als 100.000 Fällen. Dabei bietet das Unternehmen den Fluggästen nach einer Prüfung des Einzelfalls eine Sofort-Entschädigung binnen 24 Stunden an. Sprich: Mit dem Verkauf der Forderung und der Übergabe der Unterlagen ist der Fall für den Fluggast abgeschlossen. Diese Direktzahlung bietet auch die Ersatz-Pilot GmbH ihren Kunden an. Bei in der Fluggastrechte-Verordnung festgelegten Entschädigungen für längere Verspätungen von 250, 400 oder 600 Euro ist das Thema für Fluggäste und Dienstleister gleichermaßen lukrativ – auch, da Anwalts- und Gerichtskosten von den Fluggesellschaften zusätzlich bezahlt werden müssen, wenn diese sich auf ein Gerichtsverfahren einlassen und unterliegen. So dürfte allein die Möglichkeit, dass ein Dienstleister aktiv wird, auch die Zahlungsmoral mit Blick auf Fluggäste stärken, die in Eigenregie nach ihrer Entschädigung fragen.
Nun im Fokus: Ungenutzte Bahn-Tickets
Ein neues Thema hat die Ersatz-Pilot GmbH bei nach den Beförderungsbedingungen der Deutsche Bahn nicht stornierbaren Super Sparpreis-Tickets und den Stornogebühren von 19 Euro bei unbenutzten Flexpreis-Tickets entdeckt. Seit Februar 2024 kauft das Unternehmen zunächst von den Fahrgästen nicht genutzte Super Sparpreis Tickets an. Rund tausend solcher Tickets will Geschäftsführer Julian Voss in den letzten Monaten erworben haben. Für jedes einzelne ermittelt das Unternehmen in seinem Erstattungsrechner anhand der Spezifika der Buchung, welche im Ticketpreis enthaltenen Steuern und Gebühren für eine Erstattung in Frage kommen. Das können bei einem Super Sparpreis für 35,99 Euro nach Rechnung des Anbieters rund 9 Euro sein. Beim Stornierungsentgelt eines Flexpreises von 19,00 Euro könnt es perspektivisch der gesamte Betrag sein. An die Kunden von Ersatz-Pilot ausgezahlt werden jeweils 80 % davon. Der Aufwand für die Kunden ist überschaubar. Bei älteren Tickets muss man ein PDF des Tickets hochladen, bei Tickets seit Herbst 2023 gibt Ersatz-Pilot an, diese Daten über eine digitale Schnittstelle abrufen zu können – und braucht nur die Kontaktdaten des Passagiers, die Bankverbindung und wenige Angaben zur nicht durchgeführten Reise. Über die Schnittstelle kann das Unternehmen nach eigenen Angaben auch prüfen, ob das Ticket genutzt wurde – und so irrtümliche Einreichungen ausschließen, denn bei genutzten Fahrkarten gibt es natürlich keinen Rückzahlungsanspruch.
Welche Rechtsauslegung hat Ersatz-Pilot?
Julian Voss von Ersatz-Pilot sagt: „Die Anspruchs- und Bemessungsgrundlage aus dem Gesetz bilden wie bei der Erstattung für stornierte Flugtickets §§ 648, 812 BGB. Nach diesen Paragrafen dürfen Beförderungsverträge jederzeit ohne Grund gekündigt werden. Als Kündigung versteht der BGH bereits den bloßen Nichtantritt der Reise. Dabei muss das Beförderungsunternehmen zumindest den Teil des Reisepreises erstatten, den es, so heißt es bereits im Gesetz, „infolge der Aufhebung des Vertrags an Aufwendungen erspart oder durch anderweitige Verwendung seiner Arbeitskraft erwirbt oder zu erwerben böswillig unterlässt“ (§ 648 S. 2 BGB). Dazu zählen maßgeblich Steuern und Gebühren, die nur anfallen, wenn ein bestimmter Reisender auch befördert wird. Bei Bahntickets Beispiel die Mehrwertsteuer von 7 %. Und zwar, das hat der BGH für Beförderungsverträge mit Urteil vom 01.08.2023, Aktenzeichen X ZR 118/22, klargestellt, unabhängig davon, ob die einzelnen Posten in der Ticketrechnung aufgeschlüsselt werden oder nicht.“
Was sagt die Bahn?
Unser Versuch, ganz ohne Dienstleister beim Kundenservice der Bahn um eine Erstattung zu bitten, war nicht erfolgreich. Auf inhaltliche Argumente geht der Kundendialog nicht ein – schickt unpassende Textbausteine zum hier nicht relevanten Widerrufsrecht bei Fernabsatzverträgen und sorgt so für viele Zeitaufwand bei wenig Ergebnis. Eine Sprecherin der Deutsche Bahn äußert sich zurückhaltend: „Die DB Fernverkehr AG muss Stations- und Netzentgelte je Zughalt bzw. Zugfahrt entrichten, unabhängig davon, wie viele Fahrgäste sich im Zug befinden. Insofern gibt es auch keine weiteren Aufwendungen, die von dem BGH-Urteil betroffen sein könnten.“ Zur Mehrwertsteuer erklärt sie: „Beim Eisenbahnbeförderungsvertrag entfällt im Falle der Kündigung eines nicht stornierbaren Angebotes durch den Reisenden die Umsatzsteuer nicht rückwirkend, so dass es hier keine ‚unverbrauchten‘ Steuern gibt, die erstattet werden können. Dies steht im Einklang mit der Entscheidung des Bundesfinanzhof V R 36/09, Urteil vom 15.9.2011.“ Das sieht Julian Voss anders. Er betont: „Stattdessen kann man aber eine Korrelation zwischen den Entgeltberechnungsmechanismen für Netze und Bahnhöfe und der Menge an beförderten Passagieren ziehen. Das kann man nach einer von uns entwickelten Formel auf den einzelnen Passagier runterrechnen.“ Auch zur Mehrwertsteuer hat er eine Meinung: „Die Frage, wann Umsatzsteuer für Zugfahrten bei Nichtantritt von Fahrten als ersparte Aufwendung gilt, ist zwischen BGH und BFH noch nicht restlos geklärt.“
Wie passt das zusammen?
Ein Eisenbahnunternehmen, dass die Forderungen der Kunden bestreitet – und ein Dienstleister, der trotzdem investiert? Dass passt in der Theorie nicht zusammen. Doch in der Praxis wohl schon, denn laut Ersatz-Pilot funktioniert die Durchsetzung bei der Bahn so, dass das Unternehmen zwar klagen muss, aber auf die Klageerhebung hin die Bahn unmittelbar ihre Bereitschaft erklärt, freiwillig die Erstattung zu leisten und die Prozesskosten zu übernehmen. Dazu hat das Unternehmen uns einen anonymisierten Schriftwechsel mit der Deutsche Bahn AG zur Verfügung gestellt, in dem diese als Reaktion auf eine zugestellte Klage mitteilt: „Wir möchten den Prozess nicht aufnehmen und aus wirtschaftlichen Erwägungen ohne Anerkennung einer Rechtspflicht den eingeklagten Betrag zuzüglich Zinsen zur Anweisung bringen.“ Eine solche Vorgehensweise kennt man in erster Linie von Unternehmen, die ein für sie nachteiliges Urteil vermeiden möchten. Pro Fall ist eine solche Vorgehensweise laut Ersatz-Pilot-Geschäftsführer Julian Voss für die Bahn mit Kosten von rund 114 Euro für das Gericht und die Anwälte, die Ersatz-Pilot beauftragt, verbunden. Der zeitliche Aufwand bei Ersatz-Pilot ist überschaubar: „Unsere Prozesse sind weitreichend automatisiert. Pro Bahnfall beträgt unser Aufwand über alle Mitarbeiter verteilt durchschnittlich ca. 5 Minuten“, so Julian Voss.
Rechnet sich das?
Auf den ersten Blick klingt es absurd, wenn die Deutsche Bahn Rechtskosten von über hundert Euro entstehen lässt, um eine Forderung von vielleicht zehn oder zwanzig Euro schließlich doch zu bezahlen. Doch vielleicht es ist eine ganz nüchterne Kalkulation? Spare ich durch das Abwimmeln von X berechtigten Forderungen mehr, als ich an Anwaltsgebühren draufzahlen muss? Womöglich würde eine solche Kalkulation aufgehen, denn ohne entsprechende Urteile dürften viele Bahnkunden verunsichert sein, ob sie überhaupt einen Anspruch haben – und ob sich der Aufwand lohnt diesen durchzusetzen. Ändern würde sich das nur, wenn die Zahl der Einzelfälle, die Dienstleister wie Ersatz-Pilot bearbeiten, so groß würde, dass die Rechnung zu einem anderen Ergebnis führt. Trotzdem: Ein Störgefühl bleibt. Die Deutsche Bahn als im Staatsbesitz befindlicher Konzern, dessen Milliardenverluste vom Steuerzahler getragen werden, sollte sich standardmäßig an Recht und Gesetz halten – und die deutschen Gerichte nicht mit tausenden von Verfahren belasten, die das Rechtssystem belasten. Dass eine richterliche Entscheidung im Sinne von Ersatz-Pilot das ganze Tarifsystem der Bahn kippt, ist unwahrscheinlich. Schließlich geht es bei den eingeforderten Erstattungen nur um einen Teil der Ticketpreise – und die Stornogebühren bei den Flexpreisen.
Ein Blick in die Zukunft
Julian Voss schätzt sein neues Geschäftsfeld realistisch ein: „Trotzdem ist es für uns rein quantitativ ein Nebengeschäft, weil es naturgemäß um kleine Beträge geht. Hauptzweck des Produktes ist es aber stattdessen, generell die Bekanntheit unseres Unternehmens zu steigern.“ Für Fahrgäste mit stornierten Tickets ist es die Chance einen Teil des Ticketpreises zurückzubekommen, ohne langen Schriftwechsel und Kostenrisiko. Und auch für die Bahn ist es eine Chance – das eigene Preismodell so zu gestalten, dass es unangreifbar ist. Dass bis dahin womöglich noch tausende Klagen das Amtsgericht Frankfurt erreichen, ist der bittere Teil der Geschichte. Der Staat als Eigentümer der Bahn sollte ein Interesse daran haben, dass alle Kunden fair behandelt werden.
(SMC)