Jede Bewegung sitzt, angeleitet durch die erfahrenen Bootsmänner. Segel setzen, brasst die Toppen, dichtholen, belegen. Und plötzlich wird es ruhig. Der Motor, der bis vor einem Moment uns alle vorangetrieben hatte, wird abgeschaltet. Ersetzt durch eine feine Brise, die, aus Nordnordwest kommend, nun sanft in unsere 2.770 Quadratmeter Segelfläche greift und uns in Sichtweite der berühmten Kreidefelsen von Rügen mit sechs Knoten durch die ruhige Ostsee bewegt. Den Elementen willig gehorchend, von einer guten Crew gesteuert, legt sie hart am Wind einen Kurs in Richtung Bornholm - die STS KHERSONES.
Die STS KHERSONES, 1989 in Gedansk (Danzig) noch für die alte Sowjetmarine als Segelschulschiff bzw. Sail Training Ship (STS) konzipiert und gebaut, kam kurz nach der Wende als Konkursmasse an die Ukraine. Es fehlte an allem: sämtliche Konstruktionspläne waren verschwunden, es gab weder Material noch Geld. Und ohne Geld ist ein Betrieb nun mal nicht möglich, wie sollen sonst die Heuer der Besatzung, notwendige Reparaturen, Hafenliege-Gebühren, neue Segelbahnen oder allein der Proviant bezahlt werden? Doch zumindest eine Aufgabe war schnell gefunden, und so fährt sie, wie die GORCH FOCK für die Deutschen Marine, als Schulschiff der ukrainischen Handelsmarine, auf der über 70 junge Handelsoffizier-Anwärter während des Studiums ihr zweimonatiges Praktikum absolvieren. Sorgen machen aber auch erfinderisch. Schnell entwickelte sich die Idee, vor dem Hintergrund der immer zahlreicher werdenden Großsegler-Begeisterten und der stetig sinkenden Anzahl an noch fahrenden Großseglern, die KHERSONES im laufenden Ausbildungsbetrieb zu verchartern, um reisefreudige und zahlungskräftige Gäste aus aller Welt mitsegeln - und bei Wunsch auch mitarbeiten - lassen zu können. Aus dem Kreis dieser Mitsegler entstand 1992 außerdem ein Förderkreis, der es sich erfolgreich zur Aufgabe gemacht hat, das Schiff zu unterstützen und in Schuss zu halten. Auf dieser Tour, die uns von Travemünde ausgehend durch die südliche Ostsee an Rügen, Bornholm und dem Südzipfel Schwedens vorbeiführen wird, sind es 35 Gäste, hier "Trainees" genannt, die sich auf sieben schöne Tage auf einem Rahsegler freuen.
Michael, 49, kommt aus Weiden. Weiden liegt gut hundert Kilometer östlich von Nürnberg, an der tschechischen Grenze. Zusammen mit seiner Tochter Julia, 19, wollte er nach ihrem sehr erfolgreichen Abitur "einfach mal wieder was zusammen unternehmen." Vor zwei Jahren hatten die beiden eine Anzeige in der Newsweek gefunden. Später suchten sie dann verschiedene Tripps über das Internet - und wurden beim Charterer fündig. "Wichtig war für uns, dass es ein Roundtourn war, also dass Aus- und Einlaufhafen der gleiche sind, damit wir mit dem Auto anreisen konnten. Und Travemünde bot sich auch von der Entfernung her gut an", lacht Michael.
Klaus ist 60 und kommt aus Kamen. "Wir hatten einen Bericht im Fernsehen gesehen und dachten uns, da können wir was erleben, aber auch relaxen." Klaus ist mit zwei Kollegen seines Wasserballvereins da. Er grinst: "Ich habe diese Fahrt von meiner ersten Rente gezahlt, einer bekam sie zum Nikolaus geschenkt und der andere zum Hochzeitstag!" Ihre nächste Reise haben die drei auch schon geplant, 2003 soll es nach Australien gehen, 4000 Kilometer wollen erfahren, erlaufen, erflogen, überwunden werden. "Vielleicht machen wir in ein paar Jahren wieder eine Fahrt mit einem Großsegler mit", meint Klaus abschließend.
Beeindruckend sieht sie aus. Eines der imposantesten noch aktiv im Einsatz befindlichen großen Rahsegler. Ein Drei-Mast-Vollschiff, mit 26 Segeln, die fast 2.800 Quadratmeter Segelfläche bieten, einer Länge von knapp 110, einem Tiefgang von 14 und mit dem Großtopp einer Höhe von fast 50 Metern. Sie kann unter Segeln bis zu 18 Knoten Geschwindigkeit laufen. Die Kadetten und auch einige Trainees sind in Zwölf-Mann-Decks untergebracht, es gibt jedoch auch luxuriösere Vier- und Zwei-Mann-Kabinen, bis hin zur Suite. Entsprechend natürlich auch der Preis: eine Person zahlt für ein Bett in einer Zwei-Mann-Kabine während der siebentägigen Fahrt fast 1.000 Euro. Dafür ist natürlich "all inclusive" - vier Mahlzeiten am Tag, unterteilt in Frühstück, Mittagessen, Teepause und Abendbrot, werden angeboten, sogar die Abendmahlzeit ist warm und umfangreich. Ein besonderes Highlight ist hierbei das von der Bordbäckerei selbst gebackene Knoblauchbrot, welches zur Vorsuppe gereicht wird. Für den gemütlichen Umtrunk steht darüber hinaus "Ninas Bar" von 20 bis 23 Uhr zur Verfügung.
"1997 umrundeten wir, von Westen kommend, Kap Horn in Richtung Buenos Aires!", erzählt Reinhard, 52, voller Begeisterung. Reinhard kommt aus Köln, ist eigentlich Grafiker und seit Jahrzehnten passionierter Segelfan. Seine Augen leuchten, wenn er von den unzähligen Fahrten erzählt, die er schon miterlebt hat. Die Leica immer griffbereit, erwartet er das nächste Manöver, um Crew und Trainees beim Segel bergen zu dokumentieren. Die KHERSONES war, wie er berichtet, der bisher letzte Großsegler, der Kap Horn umrundet hatte und trägt nun die Ehrennadel der "Cape Hornies" - die Ehrennadel deshalb, da die eigentliche, traditionelle Umrundung nur von einem aktiven Handelssegler gemacht werden konnte. Sein nächstes Großsegler-Racing will Reinhard auf der STS SEEDOV mitmachen. "Besonders freue ich mich aber auf die Umrundung des Kaps der Guten Hoffnung mit der KHERSONES!", erzählt er. Die Tour soll 2003 von Deutschland aus über Rio de Janeiro und Kapstadt gehen.
Meuterei. Die Dänen haben der KHERSONES, die offiziell als ukrainisches Kriegssschiff registriert ist, die Einlaufgenehmigung für Bornholm verweigert. Der Wind bläst konstant aus Norden. "Jetzt, wo wir Bornholm eh nicht mehr anlaufen können, würden wir lieber einfach nur segeln!", ruft einer der Trainees. Der Kapitän, ein sympathischer, lange Jahre in der Sowjetmarine gefahrener Seebär, gibt sich überraschend locker. Im wäre es auch viel lieber, gibt er in nicht ganz leicht verständlichen englischen Sätzen wieder, man würde nicht, wie von der Reiseroute her vorgesehen, um Bornholm fahren, da aufgrund des Nordwindes und des gleichsam notwendigen Nordkurses ein Fahren unter Segeln nicht möglich sei. "Wir müssten also ständig unter Motor fahren - und dafür haben wir nicht einmal genug Kraftstoff dabei." Alle sind begeistert, die Meuterei, die eigentlich ja auch keine war, glücklich beendet.
Michael zieht ein vorläufiges Fazit. "Eine rundum gelungene Fahrt. Wir hatten viel Spaß, das Essen war gut und die Trainee-Gruppe war interessant. Was uns nicht so gut gefallen hatte, war die fehlende Verbindung zur Crew. Wir fühlten uns manchmal als notwendiges Übel, das stört, aber, da es dieses Schiff finanziert, geduldet werden muss." Da gerade die Offiziere alle gut Englisch sprechen, hätte er es gut gefunden, wenn die Kommandos auch in Englisch gebracht worden wären, um zu verstehen, was denn gerade genau passiert. Michael macht einen Vorschlag, der von vielen Mitseglern unterstützt wird: "Warum bekommen die Trainees nicht ihr eigenes Segel, wie die Großstagsegel? Wir würden viel mehr lernen und wären eigenverantwortlich."
Der Nebel will sich einfach nicht lichten. Dazu kommt eine perfekte Flaute - selbst unter Vollzeug machen wir nur knapp einen Knoten; wir fahren beinahe rückwärts. Die KHERSONES ist Gast der Travemünder Woche, die an unserem Einlauftag beginnt, doch es wäre zu schön gewesen, vor den zahlreichen auch internationalen Seglern mit allen Segeln zu kreuzen. So bleibt es ein Traum, die Segel werden zügig geborgen, Motor an, das Maritim kommt nun rasch in Sicht, der Nebel lichtet sich in Küstennähe zusehens. Eine halbe Stunde später, wieder zieht eine der gewaltigen Stockholm-Fähren majestätisch an uns in Richtung Molenkopf vorbei, haben wir mit Backbordseite im Yachthafen festgemacht.
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